Fremdgehen

Die Geschichte hat zwei Heldinnen. Zuerst sollen Sie Felicity kennenlernen.

Sie ist die älterer Frau. ‘Unkraut vergeht nicht!’ würde sie sagen.

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Oder auf Deutsch DE

Mein Roman <Endstation – Eine Geschichte aus Berlin> wird ab jeztz als Auszuge, erscheinen. Hier ist Teil 1. Ich wünsche viel Spaß!

Felicity Precious stand da im wolkenverhangenen verschlafenen Leamington Spa und blickte aus dem Erkerfenster ihres Hauses aus den dreißiger Jahren. Sie mokierte sich oft über Mode und glaubte, dass es dafür keinen Platz in der Architektur gab. Sie hatte darüber gelacht, als über die Jahre ihr Haus als typisches minderwertiges Einfachhaus abgetan wurde, man es dann als ein Beispiel gut durchdachter Planung wieder auferstehen ließ, aber nun wieder mit Hohn dafür bedacht wurde, dass es Teil der landschaftlichen Zersiedelung war, die so typisch für englische Städte ist.

Sie ging weiter zum Flur, um nach dem Telefon zu sehen. Warum das Telefon? Glaubte sie, dass es gleich nicht funktionieren könnte? Sie bemerkte, wie konfus sie im Kopf geworden war und legte wieder auf. Dabei schaute sie in den hohen Spiegel, der das Kernstück eines Möbels aus dunkler Eiche bildete, mit einer hohen Rückwand und einer Seite mit Kleiderhaken, Kleiderbürste und einem Behälter für Schirme. Ihr Blick verharrte auf der Spiegelung der großen, eleganten, schlanken Frau mit der Andeutung eines Bäuchleins, einer Frau in Haus Nummer 32, die saubere Fenster putzte. Sollte das ihr schlechtes Gewissen beruhigen? Abgesehen von ihrem Gewissen, ihre Adresse gefiel ihr sehr. Sie war nicht abergläubisch, aber 32 kam ihr immer als eine sichere Zahl vor.

Sie gönnte sich einen Augenblick, um ihren Hausflur voller dunkler Brauntöne zu bewundern, die die meisten Besucher höflich übersahen. Ihr war die doppelte Bedeutung bewusst, wenn man sagte: „Du hast den ursprünglichen Charakter erhalten. Wie hübsch altertümlich.“

Sie schätzte ihre Lincrusta-Tapeten und Linoleum-Fußböden mit Läufern in der Mitte des Gangs und auf der Treppe. Ein paar Schritte, und sie hielt erneut inne, im Wohnzimmer, wo sie stehen blieb, um die verbleiten Art-Deco-Fenster mit den seltsamen Schnörkeln aus farbigem Glas zu bewundern. Das war genau das, was in den Fünfzigern herausgerissen wurde, und, dessen war sie sich wohlbewusst, dem man seitdem kaum eine Träne nachgeweint hatte, aber sie liebte es. Sie wusste, dass ihre Nachbarn sie als die komische Alte vom Ende der Straße ansahen, aber das war gemein. Ihre schöne Haut war alles andere als faltig. Sie war eine sehr ansehnliche Frau, selbst mit Anfang sechzig.

Felicity wusste, dass ihr Mann sie für exzentrisch hielt, aber das war unwichtig. Oft genug hatte er ihr gesagt, dass eine Einrichtung im Stil der dreissiger Jahre nicht sein Ding war, aber zum Glück für sie gehörte Jack zu der Gruppe von Männern, die glaubten, dass Geschmack eine Sache der Frauen war. Zu den Pluspunkten zählte, dass ihre Vorstellung von Inneneinrichtung nicht viel kostete, deshalb ermunterte sie Jack, viel von dem verfügbaren Einkommen für Reisen auszugeben, was ihr wiederum nicht so viel bedeutete. Sie betrachtete das als einen guten Kompromiss, der sie beide durch einen glücklichen Ruhestand führen würde.

Felicity strich eher über die Scheiben, als dass sie sie putzte. Das Bleiglas war mit achtzig Jahren nicht zu stabil, und sie wusste, wenn es brach,  dass ihr Mann seinen Willen durchsetzen und die Fenster durch moderne Kunststoffelemente ersetzen würde. Sie jedoch mochte es, zärtlich mit einem feuchten Tuch über das Bleiglas zu fahren und und das Metall wieder flach gegen das Glas zu drücken, sodass es sich nicht immer anfühlte, wenn der Wind blies, als ob sie in einem Zelt lebte. Das war eine notwendige Maßnahme, wenn sie eine erfolgreiche Scheiben-Beschützerin bleiben wollte.

Ein verstohlener Blick die Straße hinunter machte ihr klar, dass ihr Besucher sich verspätet hatte. Vielleicht würde er gar nicht kommen? Sie lenkte sich ab von der Furcht, versetzt zu werden, indem sie für einen Moment in Selbstgefälligkeit verfiel. Ihr Augenmerk richtete sich auf die anderen Häuser, denn sie hatten seit langem schon ihren ursprünglichen Charakter verloren, und die Tatsache, dass sich ihre Besitzer nun an durchzugfreien Wintern erfreuten, entschuldigte in keiner Weise die mutwillige Beschädigung, mit der die Häuser zerstört worden waren. Mit einem selbstgefälligen Grinsen erinnerte sie sich daran, dass sie selbst es so lange nicht durchzugfrei haben würden, bis die Fußleisten um die Kanten abgedichtet und die Kamine verschlossen waren und ihre aufwändig ausgearbeitetes Eichenambiente dem Möbellager zur weiteren Verwertung übergeben wäre.  Die Nachbarn hatten einen altmodischen offenen Kamin behalten, und, auch wenn sie ihn nie benutzten, verloren sie so an Wärme und waren nicht besser dran als sie.

Sie stupste sich zurück in die Gegenwart. Keine dieser windigen Themen war jetzt für sie wichtig. Sie putzte ihre Fenster, sodass sie ihren Liebhaber in dem Moment ausmachen konnte, wenn er auf der Straße parkte. Ihr Plan war, die Haustür geöffnet zu haben, bevor zu viele neugierige Nachbarn Zeit fanden, ihn ankommen zu sehen und die Stunden oder Tage zu zählen, bis er wieder ging. Sie hatte sich schon wochenlang ausgemalt, wie ihr Liebster und sie sich tagelang verlieren würden, in einem Rausch der lang vergessenen Hormone.

Die meisten Nachbarn wussten, dass etwas im Gange war. Sie zuckte zusammen, als sie sich des Ausmaßes ihrer Verlogenheit besann. Für Wochen schon hatte sie eine Lüge gelebt. Jedes Mal, wenn Jack irgendjemanden, der zuhören würde, ankündigte, dass er weg sein würde, für eine Abwechslung als Kulturfreak in Berlin, während seine Frau bei ihrer Schwester die Schwingungen in Lugano aufsaugen würde, musste sie die Schamröte ihres schlechten Gewissens unterdrücken.

Autsch!

Sie hatte ihren Flug gar nicht gebucht. Sie trug jedoch in den Küchenkalender ein Abreisedatum ein und eine Uhrzeit, wenig später als das ihres Mannes. Das war dumm. So war sie gezwungen, an dem Tag einen Koffer zu packen und mit Jack zum Flughafen zu fahren, ihm zum Abschied zuzuwinken und dann ihren Koffer zum Auto zu bringen und nach Hause zurückzukehren.

Sie erschrak, als sie bei der Abfahrt bemerkte, wie der Nachbar nebenan im Garten werkelte und auch, wie er Zeuge wurde, als sie ein paar Stunden später zurückkehrte. Sie hatte ihn durchschaut und seit langem erkannt, dass die Stunden, die er im Garten verbrachte, der beste Weg war, um mitzubekommen, was auf der Straße vor sich ging. Eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen war es, seine Schnüffeleien zu durchkreuzen. Er hatte etwas über den Rasen gerufen wie: „Flug abgesagt?“ Sie hatte sich entschieden, kurz hinüberzuwinken, aber ansonsten ihn zu ignorieren, und war ins Haus gegangen. Ihre Taktik hatte niemanden getäuscht. Er würde die Erde durchkämmen, vorgeben, störenden Löwenzahn zu suchen, bis er herausgefunden hatte, was in Nummer 32 vor sich ging.

„Männer sind ein Mysterium“, dachte sie und erinnerte sich daran, wie sie in diese schwierige Lage geraten war. Vierzig Jahre Ehe hatten den erotischen Funken ausgelöscht. Sie verzweifelte daran, ihren Mann überhaupt dazu zu bringen, wieder mit ihr zu schlafen. Etwas war gestorben. Es war nicht überraschend, mutmaßte sie. Vierzig Jahre sind eine lange Zeit. Das ist länger als alles andere, womit sie je in ihr Leben verbracht hat. Und der Mann, den sie liebte, hatte bei ihr sein Feuer verloren, angeödet von ihr, nahm sie an. Sollte sie das einfach so hinnehmen? Gehörte das zum Altern dazu? Vielleicht hätte sie gesagt: „C’est la vie“, wenn da nicht eine unbequemen Wahrheit gewesen wäre, die sich weigerte, in einer entfernten Windung ihres Gehirns zu verschwinden. In unserer Welt der sexuellen Freizügigkeit und Promiskuität war Jack ihr einziger Liebhaber gewesen. Sie war eine Ausnahme in unserer Zeit. Und nur, weil Jack im Bett aufgegeben hatte, wollte Felicity ihre letzten Jahre gerade nicht als Jahre ohne Sex akzeptieren. Hätte sie eine gute Portion Sex wie all die anderen Mädchen in ihrer späten Jugend oder an der Universität gehabt, wäre sie vielleicht damit zufrieden gewesen, die letzten hormonellen Schübe an ihr vorbeziehen zu lassen. Aber so war es nicht gewesen. Unterschiedliche Zufälle hatten dazu geführt, dass sie Jungfrau blieb, bis sie Jack traf und sich in ihn verliebte. Dann war es eine Lawine der sich steigernden Gefühle und heißem Sex gewesen, und alles vorher war nicht mehr wichtig. Jetzt fühlte es sich anders an, wie ein Leben der verpassten Gelegenheiten. Sie wusste, wie kindisch sie war. Man kann die Uhr nicht zurückdrehen, und davon zu träumen, verpasste Abenteuer nachholen zu können, war ausgesprochen dumm. Aber Hormone und Dummheit sind oft austauschbare Begriffe. Sie hatte es bei ihren eigenen Kindern im Teenageralter beobachtet, als sie die verschiedenen verrückten Phasen der Reifezeit durchliefen. Sie verzweifelte an ihrer Tochter und ihrer Partnerwahl. Jetzt war sie selbst die Dumme.

Felicity hatte einige Kennenlernportale mit ein paar Sites für reifere Männer und Frauen ausprobiert. Die Kerle, mit denen sie sich heimlich getroffen hatte, – nicht einfach im kleinstädtischen Leamington – waren alles Ärsche gewesen. „Kein Wunder, dass sie bei keiner landen konnten“, hatte sie gedacht. Und es ging niemals weiter als bis zum ersten Treffen. Sie waren scharf auf sie gewesen. Felicity war immer noch eine begehrenswerte Frau, aber sie hatten alle Charaktereigenschaften, die man nicht einmal bei einem scharfen Kater akzeptieren würde. Egos so groß wie ein Elefantenfurz, aber hässlich, fett und faul genug, um sich für einen Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde zu bewerben, in der Kategorie „Nutzlose Schwänze“. Es verschlug ihr noch immer die Sprache.

So hatte sie alle Hoffnung aufgegeben, beim Thema Abwechslung im Bett noch etwas aufzuholen, bis es geschah, dass das Forschungsinstitut, in dem sie als Chemikerin arbeitete, eine radikale Neuorganisation durchmachte. Eines Tages kam sie herein und fand den leeren Schreibtisch ihr gegenüber von Ray eingenommen, der von der nun aufgelösten Abteilung „Spezialprodukte“ kam.

Sie hatte an dem Ort lange genug gearbeitet, um zu wissen, wer Ray war, hatte aber nie ein Wort mit ihm gewechselt, nicht einmal in der Kantine bei der Mittagspause. Es war ihrerseits ein Stück kleinkarierter Snobismus gewesen, und das kam daher, weil es als Faustregel galt, dass man alle bei den „Spezialprodukten“ Beschäftigte vergessen konnte. Und so hielt sie es auch, befeuert von dem Wissen, dass „Spezialprodukte“ noch niemals ein Produkt herausgebracht hatte, weder ein spezielles noch ein sonstiges.

Spezialprodukte waren die Bratschen im Orchester, die Außenverteidiger in der Fußballmannschaft, Bing Crosby bei einem Konzert von Led Zeppelin. Die Liste geht noch weiter. Sie waren wie ein Witz über die Iren, bevor das politisch inkorrekt wurde. Die Wirtschaft des Grünen Tigers hatte sich herausgebildet und ließ viele zweitrangige Komiker verstummen, aber „Spezialprodukte“ hatte nie jemanden verstummen lassen.

Sie hatte keine Ahnung, wie sie am Anfang Ray begrüßen sollte. Er saß da, lächelte sie an und bezauberte die Frau, die ihn zehn Jahre lang unbeachtet gelassen hatte. Was konnte sie tun, außer – reizend – zurückzulächeln? Dann kam die Mittagspause. Sie konnte nicht umhin, ihn einzuladen, sich ihr zum Mittagessen anzuschließen.

Sie hatte versucht, reserviert zu erscheinen, aber zu ihrem Erstaunen verlief ihre Unterhaltung völlig ohne Probleme. Sie kicherte bei seinen Späßen. Noch schlimmer, sie flirtete mit ihm, wenn niemand zusah. Was passierte da?

Zurück im Labor lag ein träger Nachmittag vor ihr. Die Hydrolyse-Reaktion, die sie am Morgen angesetzt hatte, sollte bis sechs Uhr dauern, und dann musste das aufgearbeitet werden, bevor das Produkt über Nacht verfiel. Das bedeutete, dass sie Zeit hatte für Recherche in der Bibliothek oder das Kreuzworträtsel in der Zeitung. In der Bibliotek angekommen entschied sie sich für das Rätsel und ließ sich in einer versteckten Ecke nieder. Sie musste ihr Verhalten in der Mittagspause überdenken. Sie merkte, dass sie errötete. Sie hatte sich unmöglich aufgeführt. Die Frage bei Sechs Senkrecht war: „Feuriger Liebhaber“. Die Lösung sprang ihr ins Auge, und sie füllte behutsam die fehlenden Buchstaben aus. Die Lösung: „VERKNALLT“.

„Oh, mein Gott, böses Mädchen Felicity“, so erinnerte sie sich, hatte sie vor sich hin gemurmelt. Sie streichelte zum wiederholten Mal eine widerspenstige Bleilamelle, wobei ihre Gedanken ganz woanders waren. Sie war ganz in ihren Träumen versunken.

„Und in deinem Alter“, sagte sie, lauter als beabsichtigt.

Ray war ihr zur Bibliothek gefolgt und stand hinter ihr.

„Hast du etwas gesagt?“

Sie war nicht in der Lage gewesen zu antworten, glühte aber so rot wie eine Tomate. Sowas von peinlich! Ihre Wangen beinahe in der Farbe ihrer tollen kupferfarbenen Locken, die immer noch nur hier und da eine Spur von Grau zeigten.

Sie hatten das Kreuzworträtsel gemeinsam gelöst, unter reichlichem Gekicher.

Und noch etwas. Sie fühlte eine Scham, als sie sich daran erinnerte. Was für eine peinliche und blöde Zicke sie gewesen war, und alles nur, weil sie sich Ray gegenüber aufspielen wollte, auf Kosten ihres Assistenten. Ihr Techniker, Billy, hatte um vier angekündigt, dass er eine Verabredung hatte und dass er Punkt fünf Uhr dreißig weg wäre. Sie musste ihre Versuche also selbst aufarbeiten. Dies, das wusste sie, würde sie bis neun beschäftigen, keine große Sache. Aber wenn ihr Techniker um fünf Uhr dreißig ginge, wäre sie allein im Labor.  Es gab eine Unternehmensrichtlinie, aus Gesundheits- und Sicherheitsgründen, nach Dienstschluss nicht allein im Labor zu arbeiten. Der Versuch an jenem Tag hatte das Unternehmen Tausende gekostet, nur um es so weit zu bringen. Entweder musste der Techniker seinen Termin absagen oder … ?

Sie atmete vor den verbleiten Scheiben tief durch, so tief, wie sie es an jenem Nachmittag im Labor getan hatte, als sie sich entschlossen hatte, ihm die schlechte Nachricht zu vermitteln. Warum hatte sie es getan? Sie hätte die Security bitten können, alle zehn Minuten nach dem Rechten zu sehen. Das hätte ausgereicht. Aber nein, sie war entschlossen gewesen zu zeigen, wer das Sagen hatte, und alles, weil Ray ganz in der Nähe war. Wie kindisch war sie gewesen? Aber wenn Hormone das Terrain verrückter Teenager sind, was soll dann jemanden stoppen, der sich wie ein Teenager aufführt? Die Hormone schossen hoch im Überschwang. Ihr kam das Sprichwort in den Sinn: „Wenn ein altes Haus Feuer fängt, da hilft kein Löschen.“ Sie schauderte. Es gab keine Entschuldigung für das, was nun kam!

„Du weißt, wir hatten heute diesen Versuch. Warum also dein Termin?“

Billy hatte das kommen sehen und wusste auch, warum. Er wusste, dass sie sich für den neuen Kerl aufspielte.

Es hatte ein kurzzeitiges Patt gegeben. Ganz recht so. Ihre Rage hatte sie völlig eingenommen. Sie fürchtete, er würde ihr raten, ihre Hydrolyse aufzufüllen, wo die Sonne nicht hinkommt – der Scheidetrichter hatte ungefähr das Profil – aber bevor Billy antworten konnte, hatte sich Ray eingemischt.

„Ich bleibe, bei mir liegt heute Abend nichts an“, hatte er hinübergerufen, und er fügte jenes Lächeln hinzu, wie immer, zum genau richtigen Zeitpunkt. Und es waren wundervolle drei Stunden gewesen, wobei sie über Chemie, Politik, Fernsehshows und Ehefrauen und Ehemänner gesprochen hatten. Enthalten waren auch die eigenartige Neutralisation und Extraktion, gefolgt von einer sehr kniffligen Re-Kristallisation, die auch noch eine Mischung von Ethanol- und Eisessigsäure beinhaltete und wobei Wasser hinzugefügt wurde, um die Ausfällung zu erhalten. Billy hatte die Gabe, den Temperaturpunkt zu treffen und immer nur einen Tropfen Wasser zum rechten Zeitpunkt hinzuzugeben. Sie war immer zu hastig. Sie kannte sich selbst gut genug, sie würde zu viel Wasser hinzugeben oder es nicht kühl genug bekommen. Sie würde um die weißen nadelartigen Kristalle beten – sie war Dr. Precious, der Boss – aber Titel halfen hier nicht weiter. Bei ihr endete es oft mit schlammigen Öl oder, noch schlimmer, mit einer Emulsion. Warum hatte sie das zu der Zeit Billy gegenüber nicht eingestanden? Er hätte sich wertgeschätzt gefühlt und hätte sich darüber gefreut, die Wahrheit zu hören. Es hätte bestätigt, wie gut er war, und sie hätte vielleicht ihren Kopf durchgesetzt. Er wäre vielleicht für sie geblieben. So, wie es nun war, erntete sie die schlechteste aller Lösungen. Sie hatte ihren besten und fähigsten Mitarbeiter verärgert, und sie würde in seiner Abwesenheit die Re-Kristallisation vermasseln und damit tausende Pfund an Firmengeld vergeuden, und all das vor dem Mann, den sie beeindrucken wollte. Es fühlte sich an wie „Spezialprodukte“ an einem schlechten Tag.

Aber der schlechte Tag war gerettet worden. Ray, er sei gesegnet, hatte ihr die Mischung aus der Hand genommen und den Moment genutzt, um ihr Handgelenk zärtlich zu streicheln. Dann hatte er ein bisschen stärker gekühlt, ein Tropfen Wasser und Simsalabim, es klappte beim ersten Mal. Sie war in der Lage gewesen, wunderbare weiße, nadelförmige Kristalle herauszufiltern und zu trocknen und sie zur Analyse am nächsten Morgen zu schicken. Die Überprüfung enthüllte eine beispiellose Reinheit, und die Abteilung wurde mit Pluspunkten überschüttet. Was für ein Star Ray war.

Augenblick der Wahrheit

Jetzt war ihr Ray, ihr Liebhaber, auf dem Weg. Keine Zeit, wieder auszupacken. Sie hatte den Koffer an den Abstellplatz unter der Treppe gestellt und begann ein flinkes, aber planloses Fensterputzen. Sie putzte die Fenster einmal von innen, drückte das Blei runter, staubte die Rahmen und Simse ab, und noch immer war nichts von ihm zu sehen. Ihr Nachbar war immer noch am Jäten, wobei er hoffte, dass seine Scheinbeschäftigung die ständigen Blicke in ihre Richtung verschleiern könnte. Sie kannte ihn zu gut, als dass sie sich von einem Eimer Unkraut täuschen ließ. Löwenzahn war das Letzte, wofür er sich interessierte. Er spionierte wieder herum.

Wieder mit den Fenstern von vorn anzufangen, das war keine Option, würde verdächtig erscheinen – ein Zeichen von Irrsinn oder, schlimmer noch, eines schlechten Gewissens.

Ihre Fassungslosigkeit wurde noch durch die Tatsache verstärkt, dass ihr Liebhaber nicht ihr richtiger Liebhaber war, jedenfalls noch nicht. Sie hatten Mittagspausen zusammen in einem Pub nahe der Arbeit verbracht und schwer miteinander geflirtet, wann immer sie sich auf den Fluren zwischen dem Labor und den Waschräumen begegneten. Aber es war nicht zu mehr gekommen, und heute sollte der Tag sein. Sie war niemals fremdgegangen, und niemand war mehr verwundert darüber als sie selbst, dass es zu dieser Situation gekommen war.

Ihre Absichten auf der Arbeit zu verbergen, war leicht gewesen. Niemand nahm Notiz davon, wenn zwei Über-Sechzigjährige flirteten. Es war für jüngere Kollegen unvorstellbar, dass in gesetzten Leibern noch immer eine erotische Flamme brennen könnte. Seit dem Aufstehen heute Morgen hatte sie ihren eigenen Mut bereut. Vierzig Jahre der Monogamie machten diesen Schritt hin zum Betrug zu einer ganz besonderen Sache. Sie nahm an, dass Jack irgendwo in Berlin eine kleine Liebschaft sitzen hatte. Warum sollte er sonst immer wieder dorthin fahren? Das machte es aber auch nicht leichter für sie, es mit der Untreue auszuprobieren.

Sie nahm ihr Handy, um ihrem sich nähernden Verehrer zu sagen, dass sie ihre Meinung geändert hatte. Ihr Handy war ausgeschaltet. Das war eine Sicherheitsmaßnahme für den Fall, dass Jack anrief und Glockenschläge von Westminster von der Uhr im Flur das Spiel auffliegen lassen würden. Dann würde er wissen, dass sie nicht in der Schweiz war. Sie würde ihm dann die Wahrheit erzählen. Soviel wusste sie. Den Nachbarn etwas vorzuspielen, war das Eine, ein Seitensprung viel schlimmer, aber dann den Mann der vergangenen vierzig Jahre anzulügen, war undenkbar. Folglich, räsonierte sie, war es besser, nicht aufzufliegen, und dann würde sie nicht lügen müssen, nicht wahr? Sie war stolz auf ihre weibliche Logik.

Sie begann, an ihrem Handy herumzufummeln und versuchte, es in der Eile einzuschalten, aber das Gatter quietschte, und da war er, und er kam den Weg zum Eingang hoch. Zu spät! Sie rannte zur Tür, zog sie auf, ergriff ihren neuen Mann und – gleich hinter der Türschwelle – begrüßte sie ihn mit einem Zungenkuss, wie sie es mit niemandem in den letzten zehn Jahren getan hatte.

„Wow“, dachte sie. „Hormone können immer noch in Wallung bringen.“

Felicity ertappte sich dabei, wie sie Rays Jacket vom Körper riss.

„Nicht so wild, Liebes!“

Beide hielten einen Moment inne und lachten.

Free to read at Kindle Unlimited.

Published by Clive La Pensée

Clive La Pensée, ex-science teacher, recognised writer on history of beer, novelist, expressionist, dreamer, believer in never giving up, empathiser, hopeful for a future without class, gender or racial prejudice. It's tough and at the moment, one has to remember distance travelled, rather than where we are at.

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